Frankreich ist für mich mehr als Baguette, Fromage und Mode: Durch ein FSJ, also ein Freiwilliges Soziales Jahr, in Bordeaux nach dem Abitur, Studienzeiten in Lyon und Aix-en-Provence und ein Praktikum in Marseille erlebe ich die deutsch-französische Beziehung hautnah. Ich sehe, wo sie funktioniert und aufblüht, erlebe aber auch viele Momente, in denen Kritik am Nachbarland laut wird oder schlimmer noch: einfach Desinteresse besteht. Oft fragen mich meine Freund:innen aus beiden Ländern, warum diese Freundschaft überhaupt wichtig ist und was sie konkret bedeutet. Für mich verhalten sich Deutschland und Frankreich wie Freunde auf Instagram: Sie liken, kommentieren und teilen Storys, sind mal miteinander befreundet, mal gehen sie auf Distanz. Aber wie kam diese Freundschaft zustande? Wer hat wem die Freundschaftsanfrage geschickt, und wo ist diese alte Verbindung auch für unsere Generation wirksam bzw. bedeutend? Warum braucht sie insbesondere junge „Follower:innen”?
Um das herauszufinden, habe ich mit einer Expertin für deutsch-französische Beziehungen gesprochen. Nicole Colin arbeitet als Professorin für Germanistik an der Universität Aix-Marseille in Aix-en-Provence. Die deutsch-französischen Beziehungen stehen im Zentrum ihres beruflichen wie privaten Lebens. Sie forscht zu den deutsch-französischen Kulturbeziehungen; ihre Kinder haben die Schule in Deutschland und Frankreich besucht, sie sprechen beide Sprachen und leben, studieren und arbeiten in beiden Ländern.
Nicole Colin, was gehen mich als Schüler:in, Studierende:r oder Auszubildende:r die deutsch-französischen Beziehungen an?
Nicole Colin: Die große Politik braucht eine breite Basis in der Zivilbevölkerung. Das deutsch-französische Regierungsteam spiegelt letztlich die Strömungen unserer Gesellschaft. Wenn wir uns nicht im Kleinen für unseren Nachbarn interessieren, hat auch die große Politik keine Chance. Das Interesse kann vielfältig sein: Wir können die Sprache des Anderen lernen, uns in einer deutsch-französischen Städtepartnerschaft engagieren, als Auszubildende oder Studierende von einem Erasmus-Aufenthalt in Frankreich profitieren oder sogar einen deutsch-französischen Studiengang wählen. Auf diese Weise schärfen wir unsere interkulturellen Kompetenzen, unterstützen aber gleichzeitig auch das gegenseitige Verständnis in beiden Ländern und auf diese Weise auch den europäischen Integrationsprozess. Und nicht zu vergessen: Diese Aktivitäten machen Spaß, wir lernen viele neue Menschen kennen, erweitern unseren Horizont.
Wer hat nun wem die „Freundschaftsanfrage“ geschickt und warum ist sie so wichtig?
Nach dem Zweiten Weltkrieg bildete die deutsch-französische Versöhnung, vorangetrieben von Konrad Adenauer und Charles de Gaulle, den „Motor“ und das Fundament für den Prozess der europäischen Einigung und den Beginn der deutsch-französischen Freundschaft. Diese „Motorfunktion“ für Europa haben Deutschland und Frankreich beibehalten: Als die beiden größten und wirtschaftlich wichtigsten Länder der EU hat jedes für sich bereits großes Gewicht bei Grundsatzentscheidungen in der EU. Wenn sich beide Regierungen einig sind, können sie einen extrem großen Einfluss auf die politische Entwicklung nehmen und nachhaltig die europäischen Grundwerte und die demokratischen Prinzipien schützen.
Woraus bestehen konkret die deutsch-französischen Beziehungen?
Die deutsch-französischen Beziehungen existieren auf verschiedenen Ebenen: Wir teilen die deutsch-französische Geschichte, die über viele Jahrhunderte durch Konflikte und Kriege geprägt wurde, wie beispielsweise zur Zeit des Deutsch-Französischen Krieges. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg konnten die „Erbfeinde“ ein positives Verhältnis aufbauen. Die deutsch-französische Versöhnung bildet nicht nur die Grundlage der europäischen Integration, sondern wird auch weltweit als Vorbild in Kriegssituationen angesehen. Heute basiert sie vor allem auf einem riesigen Netzwerk auf politischer, kultureller und zivilgesellschaftlicher Ebene. Da dieses dichte Netzwerk relativ unabhängig von der jeweiligen Tagespolitik besteht, ist die Kooperation unterschiedlichster Akteure Grundlage und nachhaltige Garantie für die deutsch-französische Freundschaft und das gegenseitige Vertrauen.
Aber haben solche bilateralen Beziehungen in unserer zunehmend globalisierten Welt überhaupt noch Bedeutung?
Auch im globalen Zeitalter sind die Kommunikationsfähigkeiten des Menschen begrenzt: So international man auch immer agieren möchte, so sehr ist man letztlich doch auf ein konkretes Gegenüber angewiesen, mit dem man kooperieren möchte. Der direkte Kontakt mit einem anderen Land oder einer anderen Kultur lässt sich nicht globalisieren. Grundlegende Kenntnisse der anderen Sprache und Kultur bleiben hierfür eine ganz wichtige Grundlage, über die aber heute immer weniger deutsche und französische Schüler:innen und Studierende verfügen. Aufgrund der Dominanz des Englischen glauben viele, auf eine zweite Fremdsprache verzichten zu können, das ist sehr problematisch! Je weniger Interesse am Anderen, desto schwieriger wird es, das deutsch-französische Netzwerk in seiner heutigen Qualität aufrechtzuerhalten. Aber auch hier gibt es gerade im deutsch-französischen Bereich für Interessierte viele Möglichkeiten, noch später einzusteigen: Deutsch-französische Städtepartnerschaften wie beispielsweise Hamburg-Marseille, die bereits seit über 60 Jahren bestehen, bieten eine Gelegenheit, das andere Land kennenzulernen, auch wenn man die Sprache des Anderen nicht spricht.
Vielen Dank, Frau Colin!
Das gegenseitige Interesse am Nachbarland nimmt nach einer Umfrage des Allensbach-Instituts ab. Demnach interessieren sich 63 % der befragten Französ:innen „kaum“ oder „gar nicht“ für Deutschland. Im Vergleich dazu ist zwar auch das Interesse der Deutschen an Frankreich gesunken, jedoch bekundete mehr als die Hälfte der Befragten weiterhin großes oder zumindest etwas Interesse an den Ereignissen in Frankreich.1
Und wie steht es um unsere Generation?
Um einen kleinen Eindruck davon zu gewinnen, habe ich vier Freund:innen von mir aus Deutschland und Frankreich gefragt: Was verbindet ihr mit der deutsch-französischen Freundschaft?
Hannah, 24, aus Wachtendonk
Für mich bedeutet die deutsch-französische Beziehung die Möglichkeit, problemlos ins Nachbarland in den Urlaub zu reisen. Ich empfinde es als Privileg, dass eine so starke Zusammenarbeit aus der Geschichte heraus entstanden ist und wir heute davon profitieren können. Diese Beziehung hat auch meine persönliche Entwicklung stark geprägt, da ich, seitdem ich 20 Jahre alt bin, in Frankreich lebe. Sowohl mein Studium als auch meine ersten beruflichen Erfahrungen sind daher untrennbar damit verbunden. Meine Liebe zu Frankreich hat sich über die Jahre hinweg so stark entwickelt, dass ich mir sogar vorstellen kann, in Zukunft hier zu leben.
Virgile, 28, aus Paris
Ich finde, der Begriff des „deutsch-französischen Paares“ hat etwas sehr Institutionelles an sich. Ich bin das erste Mal darauf durch das Buch „Le couple franco-allemand n'existe pas“ von Coralie Delaume gestoßen. Die Autorin kritisiert darin die EU und die Tendenz der französischen Eliten, den Deutschen hinterherzulaufen und alle ihre Bedingungen zu akzeptieren und dabei zu glauben, dass sie zusammenarbeiten. Es sind für mich vor allem die Politiker:innen, die diesen Ausdruck verwenden. Das schließt keineswegs aus, dass es auch eine aufrichtige Freundschaft zwischen den Völkern gibt. Aber ich glaube nicht, dass diese durch die Politik vermittelt wird, sondern vielmehr durch die unmittelbaren Momente, die wir mit unseren Nachbar:innen erleben (für mich sind das die Currywurst und die Clubs in Berlin).
Clara, 16, aus Bamberg
Was verbinde ich mit Frankreich? Schicke Klamotten und schlechtes Essen. Die paar verbrachten Urlaub dort bestätigen das. Ich finde es unvorstellbar, dass Frankreich und Deutschland vor nicht einmal 75 Jahren noch verfeindet waren. Ich denke, in der EU, aber auch in ganz Europa, ist die deutsch-französische Freundschaft essenziell für ein friedliches Miteinander.
Julia, 21, aus Salon-de-Provence
Für mich als junge Europäerin sind die deutsch-französischen Beziehungen sehr wichtig. Meiner Meinung nach gestalten die beiden Länder die Zukunft Europas und die Zusammenarbeit ist auf allen Ebenen weit ausgeprägt. Ich habe auch einen persönlichen Bezug dazu, da ich seit einigen Jahren Botschafterin des Deutsch-Französischen Jugendwerks bin und mich in dem Netzwerk für den interkulturellen Austausch einsetze. Außerdem studiere ich einen deutsch-französischen Studiengang und habe mich bereits mehrmals über einen längeren Zeitraum in Deutschland aufgehalten.
Die deutsch-französische Freundschaft ist wesentlich für die Verständigung und Zusammenarbeit auf europäischer Ebene. Sie dient auch als internationales Vorbild der Versöhnung zweier ehemals verfeindeter Länder. Aber wie in einer echten Partnerschaft gibt es auch Krisenmomente. Gerade in unsicheren Zeiten kann eine solche bilaterale Beziehung ein Anker sein, besonders wenn sie durch zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit gestützt wird und unabhängig von der aktuellen Tagespolitik weiterbesteht. Egal, welches Land man näher kennenlernt oder zu welchem Land man eine Beziehung aufbaut – ein Perspektivwechsel und ein Blick über die Landesgrenzen hinaus sind immer ein Gewinn!
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(1) Allensbach Umfrage der DFI: online auf dfi.de [15.07.24].
(2) Bundesrat: Ein halbes Jahrhundert deutsch-französische Freundschaft, online auf bundesrat.de [31.07.2024].
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