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Frischer Wind

Über multiple Krisen der Gegenwart, Demokratie als Haltungsfrage für Gegenwart und Zukunft und ein Berliner Start-up, das junge Menschen auf ihrem Weg in die Politik unterstützt.


„Der Zustand der lebenserhaltenden Erdsysteme und -prozesse verschlechtert sich rapide“, heißt es im ersten planetaren Gesundheitscheck des „Potsdamer Instituts für Klimafolgenforschung“. Weltweit stehen Demokratien zunehmend unter Druck, soziale Ungleichheit spitzt sich in vielen Ländern zu und die Allgegenwärtigkeit von Krieg, Terror und Gewalt heizt den politischen Diskurs um Aufrüstung und Deutschlands „Kriegstüchtigkeit“ an. Die Liste an Beispielen multipler Gegenwartskrisen könnte problemlos weitergeführt werden und vermutlich den gesamten Artikel füllen. Feststeht, dass, wer sich umschaut und auf die Suche nach Krisenherden begibt, ohne Mühe fündig wird. Und wer die Berichterstattung einigermaßen verfolgt und auf Social Media aktiv ist, kann sich der Omnipräsenz unserer krisenhaften Gegenwart ohnehin schlecht entziehen. Eine tiefgreifendere Auseinandersetzung und Einordnung der Krise in die eigene Lebensrealität braucht Zeit und starke Nerven, denn: Das Bewußtsein für und die Auseinandersetzung mit strukturellen Problemen führt nicht selten zu einem Ohnmachtsgefühl. Verlockend scheint da die Option, mit Scheuklappen durch die Welt zu gehen und gesellschaftliche Probleme auf Abstand zu halten. Für die Demokratie, deren Basis eine aktive Zivilgesellschaft mit politischem Gestaltungsanspruch an eine gemeinsame Zukunft bildet, kann kollektive Ohnmacht und politische Resignation jedoch existenzgefährdend werden. Gestaltung und Mitwirkung unter Einhaltung der Spielregeln ist eben nicht nur Recht, sondern auch Pflicht fü die Mitgleider einer politischen Gemeinschaft, die die Demokratie nicht ihren Gegner:innen überlassen will.

Neben dem verfügbaren Wissen kommt es in entscheidendem Ausmaß auf die Haltung der Mitglieder einer Gesellschaft an. Also auf die Frage, ob und wie sie sich ihrer Gegenwart und Zukunft annehmen und diese gestalten wollen. Dabei ist die gesellschaftliche Reaktion auf Krisen mehr als die Summe individueller Antworten. Es braucht Menschen, die mit ihrem gesellschaftlichen Gestaltungsanspruch voranschreiten und sich in ihrem Bewusstsein der Veränderbarkeit von Zuständen politisch engagieren. Mutmacher:innen der Demokratie, die andere für ihre Visionen begeistern können und dabei zeigen, dass es auch anders geht. Bekanntlich ist aller Anfang schwer und wer die politischen Spielregeln unseres Zusammenlebens mitbestimmen will, muss  wissen, wie.


Das politische Start-up „JoinPolitics“ hat es sich zum Ziel gesetzt, genau diese engagierten Personen in ihrer politischen Vision durch gezielte Förderung zu unterstützen. Die verschiedenen Förderungsformate sind dabei überparteilich ausgerichtet und wenden sich primär an junge, engagierte Menschen. Grundsätzlich kann sich aber jede:r für das Förderungsprogramm bewerben, der eine klare politische, demokratiefördernde Vision hat. „Unabdingbar ist dabei die intrinsische Motivation für das politische Feld“, antwortet Co-Gründer Philip Husemann in einem Interview mit GENZ auf die Frage, welche Eigenschaften ein:e Bewerber:in mitbringen sollte. In die Politik zu gehen bedeutet nämlich auch, sich trotz Unsicherheit und Frustrationsmomenten für seine Überzeugungen und Werte einzusetzen.  In insgesamt sechs Kohorten wurden seit der Gründung von JoinPolitics im Jahr 2019 bisher 43 Menschen gefördert. Als Schlüsselmoment zur Gründung nennt Husemann den krisenhaften Zustand der Demokratie und die Beobachtung, dass insbesondere junge Menschen häufig mit den klassischen Strukturen von Parteien „fremdeln“ und sich aus diesem Grund gegen einen Weg in die Politik entscheiden. Als neue Anlaufstelle verfolgt JoinPolitics das Ziel, das demokratische Potenzial, das von diesen engagierten Menschen ausgeht, aufzufangen und diese durch gezielte Förderung auf ihrem Weg in die Politik zu unterstützen.




Gefördert werden politische Talente, die eine Idee entwickelt haben, um die großen Herausforderungen der Zeit zu adressieren. Das kann durch den Start einer politischen Initiative geschehen oder  durch die Kandidatur für ein politisches Mandat oder Amt, um direkt im politischen Betrieb zu wirken. Wer sich im mehrstufigen Auswahlprozess durchsetzen und die Jury von der eigenen Idee und Persönlichkeit überzeugen kann, auf den wartet ein Förderprogramm von Januar bis September im nächsten Jahr.  Schon vor Beginn werden Teilnehmende individuell, etwa bei der Gründung ihrer Initiative, beraten und gegebenenfalls finanziell bezuschusst. Highlights der Förderung bilden zwei dreitägige Bootcamps, in denen die politischen Talente durch Masterclasses, Workshops und gezieltes Coaching zur bestmöglichen Weiterentwicklung und Umsetzung ihrer politischen Ansätze befähigt werden sollen. Dabei geht es inhaltlich beispielsweise darum, sich im Storytelling zu üben und zu lernen, die sozialen Medien strategisch zu nutzen. Außerdem haben geförderte Talente auch nach Ende der eigentlichen Förderperiode die Möglichkeit, JoinPolitics als Alumni verbunden zu bleiben und weiterhin vom gegenseitigen Austausch und der Vernetzung untereinander zu profitieren. Erklärtes Ziel des Start-ups ist es, bis 2028 mindestens hundert Menschen gefördert zu haben, um einen transformativen Impuls innerhalb des Politikbetriebs zu setzen. Was der Co-Geschäftsführer Philip Husemann den Programmteilnehmenden und auch anderen Menschen in ihrem Engagement rät, um mutig zu bleiben? Sich mit einem Team an Verbündeten zu umgeben und sowohl nach Erfolgsmomenten als auch nach Rückschlägen die Gemeinschaft zu suchen. Dabei sei es wichtig, die eigene Niederlage nicht als Scheitern zu begreifen, sondern anzuerkennen, dass diese auf dem Weg dazugehört und einen möglichen Wendepunkt darstellen kann, von dem aus es wieder bergauf geht. Außerdem sei es, wenn möglich, enorm hilfreich, eine Person als Mentor:in zu haben, von deren Erfahrungswerten und Unterstützung man profitieren kann. JoinPolitics nutzt einen Ansatz, den wir uns in unserer unmittelbaren Umgebung zu eigen machen können, indem wir uns selbst und anderen zum Mutmacher:inne werden.


Ein kurzer Blick auf drei geförderte Talente:

Mehmet Ildeş engagiert sich im Stuttgarter Jugendrat, seitdem er 14 ist. Während fast die Hälfte der Stuttgarter Stadtbevölkerung Migrationsgeschichte hat, sitzen im Gemeinderat nur etwa 15 % Menschen aus Einwandererfamilien (2023). Ein Ungleichgewicht, das der 23-Jährige mit dem selbst gegründeten Verein „Local Diversity“ bekämpft. 2024 wurde Mehmet in den Gemeinderat Stuttgart gewählt und kann sich nun auch auf kommunaler Ebene für seine politische Vision und seine Generation engagieren.


Jung und weiblich – eine Kombination, die in der CDU und der Politik eher selten vorkommt. Tina Trompter hat sich vorgenommen, das zu ändern. Die 24-Jährige will ihre Stimme nutzen und andere junge Menschen an die Politik heranführen. Sie kandidierte erfolgreich für den Sächsischen Landtag und ist dort seit September die jüngste Abgeordnete ihrer Partei.  Als Ansprechperson für Jung und Alt aus ihrer Region setzt sie sich dafür ein, Probleme zu lösen und die Demokratie zu stärken.


Luca Piwodda (24 Jahre) aus Gartz (Oder) wurde 2021 von JoinPolitics aufgenommen. Bereits 2018 gründete er eine neue Partei, die Freiparlamentarische Allianz (FPA). 2024 kandidierte er in seiner Heimatstadt als Bürgermeister und gewann die Wahl mit überparteilicher Unterstützung und 75% der Stimmen. Damit gehört er zu den jüngsten Bürgermeistern Deutschlands. Sein Bestreben ist es, jungen Menschen, gerade in ländlichen und strukturschwachen Regionen, eine politische Stimme zu geben und lokal Veränderungen anzustoßen.


Für weitere Informationen rund um JoinPolitics, bisher geförderte Talente und den Ablauf des Förderprogramms ist ein Besuch der Website joinpolitics.org zu empfehlen.




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(1) Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung, 2024: Erster planetarer Gesundheitscheck: Erde überschreitet sichere Grenzen, online, pik-potsdam.de [30.09.2024]


(2) Schneider, C., 2023: Kommentar zu Pistorius.„Kriegstüchtig“ ist das richtige Wort zur Unzeit, online, deutschlandfunk.de [6.10.2024]


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