Hjalmar Stemmann, Präsident der Handwerkskammer erklärt dir, was es mit dem Fachkräftemangel in Hamburg auf sich hat, wie wir im Vergleich zu anderen Bundesländern stehen und was jetzt passieren muss.
Cornelius für GENZ: Wo ist der Fachkräftemangel in Deutschland besonders ausgeprägt und woran liegt dies?
Hjalmar Stemmann: Fachkraft ist, wer über eine mindestens zwei- bis dreijährige Ausbildung verfügt. Niedriger werden Arbeitskräfte eingestuft (Helfertätigkeiten, keine Ausbildung), höher Spezialist*innen (Meister und Techniker*innen) sowie Expert*innen (Fachschul- oder Hochschulausbildung). Diese Unterscheidung ist nicht nur akademischer Natur, sondern spiegelt sich auch in den Statistiken der Bundesagentur für Arbeit wider. Tatsächlich ist der Fachkräftemangel am stärksten, aber auch in den Stufen Arbeitskräfte, Spezialist*innen und Expert*innen gibt es erhebliche Engpässe. Bundesweit werden über 70 Berufe als Engpassberufe ausgewiesen. Das beruht auf einer sehr engen Definition der Bundesagentur. Das Handwerk führt bundesweit leider die Liste mit drei Berufen aus dem Baubereich an, ist mit sechs Berufen in den TOP 10 vertreten und stellt insgesamt über die Hälfte der Berufsgruppen, in denen es einen Fachkräfteengpass gibt. Diese rund 40 Berufe verteilen sich über alle Handwerksbereiche von Augenoptik bis Zahntechnik. Am stärksten betroffen sind jedoch die Bau- und Ausbauberufe.
Wie ist Hamburg im Vergleich zu anderen Städten aufgestellt?
Hamburg steht dabei statistisch scheinbar besser da als das nördliche Umland und insbesondere die süddeutschen Bundesländer. Bei uns kommen tatsächlich nur fünf Berufe in die Engpassbewertung. Auf Platz 1 stehen die Pflegeberufe, auf Platz 2 dann Klempnerei, Sanitär, Heizung, Klimatechnik (SHK). Das sind die zentralen Berufe, um die Klimawende umzusetzen. Jetzt aber gleich Entwarnung für Hamburg zu geben, greift allerdings zu kurz. Im Bereich der Elektrotechnik hat Hamburg z. B. die bundesweit höchste Vakanzzeit, das ist der Zeitraum, bis eine Stelle neu besetzt werden kann. In Hamburg dauert das im Schnitt vier Monate (121 Tage), alle anderen Bundeländer liegen unter 100 Tagen. Auch bei der schon erwähnten Berufsgruppe Klempnerei, Sanitär, Heizung, Klimatechnik hat Hamburg mit Bayern zusammen mit 102 Tagen Vakanz den dritthöchsten Wert. Nur Thüringen, Nordrhein-Westfalen (beide 105) und Rheinland-Pfalz/Saarland (111) stehen noch schlechter da. Ich könnte diese Auswertung mit zahlreichen Beispielen fortsetzen, ob im Bau- und Ausbaubereich, den Ernährungs- oder den Gesundheitshandwerken. Zudem führt der Fachkräftemangel in anderen Regionen auch dazu, dass es weniger Binnenmigration gibt, also der Zuzug aus anderen Teilen Deutschlands nach Hamburg geringer wird. Ich rechne damit, dass bald weitere Berufe in Hamburg, auch aus dem Handwerk, zu den Engpassberufen zählen werden.
Welche Rolle spielt die Digitalisierung in diesen Entwicklungen?
Ich erhoffe mir von der Digitalisierung einen positiven, also dämpfenden, Effekt auf den Fachkräftemangel. Wenn zukünftig z. B. Kollege Roboter schwere und belastende Arbeit übernimmt, bleiben Fachkräfte gesünder und können länger ihren Beruf ausüben. Und mit digitalen Geräten und Messwerkzeugen sind bestimmte Tätigkeiten schneller und meistens auch präziser ausgeführt, als wenn ich einen Zollstock anlege und die Werte dann per Hand in irgendwelche Tabellen übertrage. Zudem werden Berufe natürlich cooler, wenn ich dort mit hochmodernen Geräten arbeiten kann. Hinzu kommt, dass wer ein Handwerk lernt, in der Regel auch mit der Hand arbeiten möchte und die Verwaltung, z. B. das Ausfüllen von Stundenzetteln oder Arbeitsnachweisen, gerne mit dem Smartphone oder dem Tablet macht, um mehr Zeit für den eigentlichen Beruf zu haben. Und einige Tätigkeiten, für die nur schwer Arbeitskräfte zu finden sind, können auch nahezu vollständig automatisiert werden, wie z. B. die Reinigung von Turnhallen oder Einkaufszentren. Das spart dann wieder Arbeits- und Fachkräfte für die Tätigkeiten ein, wo heute die Digitalisierung noch keine Lösung anbietet. Wir können nur hoffen, dass die Digitalisierung mindestens so schnell voranschreitet, wie die Babyboomer-Generation in Rente geht. Sonst wird die Fachkräftelücke immer größer.
Wie messen Sie Fachkräftemangel?
In der Handwerkskammer nutzen wir erst einmal die Daten der Arbeitsagentur und der statistischen Landesämter oder anderer öffentlichen Quellen. Diese Daten sind hoch valide und werden seit Langem erhoben. Daraus lassen sich dann Zeitreihen bilden, aus denen Trends und Entwicklungen abgeleitet werden. Meine Antworten auf die ersten beiden Fragen beruhen z. B. auf der aktuellen Engpassanalyse der Bundesagentur mit Daten aus dem Jahr 2021. Für den Fachkräftemangel legt die Bundesagentur die oben erwähnte Vakanz, die Arbeitssuchenden-Stellen-Relation (wie viele Arbeitslose gibt es pro offene Stelle), die berufsspezifische Arbeitslosenquote (wie hoch ist das Risiko, in einem Beruf arbeitslos zu werden), die Veränderung des Anteils sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung von Ausländern (wie viele Ausländer werden in einem Beruf beschäftigt), die Abgangsrate aus der Arbeitslosigkeit und die Entwicklung der mittleren Entgelte als Kriterium an. Da verfügen die Arbeitsagenturen über Daten, an die eine Handwerkskammer gar nicht rankäme. Die Stimmung im Hamburger Handwerk messen wir selbst über regelmäßige Betriebsumfragen. Hier sind auch immer wieder Fragen dabei, die Aufschluss zur Fachkräftesituation geben. Über den bundesweiten Zentralverband des Deutschen Handwerks können wir diese Zahlen dann mit anderen Kammerbezirken vergleichen.
Das Motto der Gemeinschaftsinitiative der Handwerkskammern in Deutschland ist „Gemeinsam einen Schritt voraus“. Welche Schritte gehen Sie, um dem Fachkräftemangel zu begegnen?
In dieser Gemeinschaftsinitiative geht es in erster Linie um die Marke Handwerk, den Content in unseren Medien, Digitalisierung und E-Government. Also die Schnittstelle zu unseren Mitgliedsbetrieben und ihren Mitarbeitenden, Ausbildungsinteressierten, der Öffentlichkeit allgemein und der Zusammenarbeit zwischen den Handwerkskammern. Zum Thema Fachkräftemangel werden wir in Hamburg mit zwei Instrumenten deutlich konkreter. Zum einem unserem Handlungsprogramm 2019–2024 und zum anderen mit dem Masterplan Handwerk 2030. Das Handlungsprogramm ist zeitlich an die Wahlperiode der Vollversammlung, also des Parlaments der Betriebsinhaber*innen und der Beschäftigten geknüpft. Es wird alle fünf Jahre neu erarbeitet und ist Leitfaden für die gemeinsame Arbeit von Haupt- und Ehrenamt. Der Masterplan Handwerk 2020 wurde erstmalig 2011 zwischen Handwerkskammer und Senat geschlossen. Bereits damals war das erste Kapitel überschrieben mit „Fachkräftesicherung und Qualifizierung“. Das Thema begleitet uns also schon einige Jahre. Der neue Masterplan Handwerk 2030 wurde dieses Jahr verabschiedet. Gleich im ersten Kapitel beschäftigen wir uns mit „Talente, Qualifizierung und Fachkräfte“. Das Thema bleibt also weiterhin an erster Stelle. Konkret unterstützt die Handwerkskammer Hamburg kleine und mittlere Betriebe bei der Nachwuchsgewinnung, da der typische Handwerksbetrieb über keine eigene Personalabteilung verfügt. Maßnahmen sind z. B.:
Beratung und Qualifizierung von Menschen mit Migrationsgeschichte, um deren Potenzial zu heben
Unterstützung von Betrieben einerseits und Schüler*innen (insbesondere aus besonderen Zielgruppen) andererseits bei der Anbahnung und Durchführung von Schulpraktika
Begleitung und Unterstützung von jungen Menschen bei der Ausbildungsplatzsuche, im Bewerbungsprozess und bei der Vermittlung an die Handwerksbetriebe
Multiplikatoren der Berufsorientierung (Lehrer*innen, Eltern) Einblicke in Handwerksberufe bieten
Steigerung der Attraktivität der dualen Ausbildung im Handwerk für leistungsstarke Schüler*innen, z. B. im Verbund mit der Beruflichen Hochschule Hamburg
Förderung und verstärkte Gewinnung von Frauen fürs Handwerk
Gewerkeübergreifende Erhöhung der Weiterbildungsbeteiligung durch den Weiterbildungsbonus
Einsetzung eines Runden Tisches „Klimaberufe“ im Fachkräftenetzwerk mit Betrieben, Behörden und Innungen
Das sind einige unserer Maßnahmen, aber lange noch nicht alle. Und Nachwuchswerbung steht auch deswegen an oberster Stelle, weil das unsere Fachkräfte von morgen sind.
Wie schätzen Sie derzeitige Bestrebungen der Ampel-Koalition zur Bekämpfung des Fachkräftemangels ein?
Das Handwerk erwartet von der Politik, egal ob auf Bundes- oder Landesebene, dass diese rasch und nachhaltig die erforderlichen Maßnahmen zur Fachkräftesicherung insbesondere in diesen Bereichen ergreift:
Stärkung der Beruflichen Bildung und insbesondere der dualen Ausbildung
Arbeitsmarkt- und betriebsnahe Gestaltung von Fort- und Weiterbildung
Mittelstandsgerechte Zuwanderungspolitik
Vermittlungswirksame Arbeitsmarktpolitik
Förderung von Betriebsnachfolgen
Diese Punkte müssen auf die politische Agenda der Bundesregierung, der Fachministerien und letztendlich auch der Regierungen und Verwaltungen der Bundesländer gesetzt werden, damit der unabdingbare Fachkräftebedarf qualitativ und quantitativ gedeckt werden kann. Dafür setzen sich der Zentralverband des Deutschen Handwerks auf Bundesebene und die Handwerkskammer Hamburg hier in unserer Stadt ein.
Vielen Dank, Herr Stemmann!
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